m berühmten Finale der Fußballweltmeisterschaft vom 4. Juli 1954 hatte die deutsche Mannschaft einen Erfolgsfaktor, der erst in der Halbzeitpause zum Tragen kam. Ein bis dato noch recht unbekannter Schuhmacher aus Herzogenaurach namens Adolf "Adi" Dassler, welcher zuvor zum Zeugwart der Nationalmannschaft ernannt worden war, hatte die gesamte Mannschaft mit einem damals brandneu patentierten Fußballschuh mit austauschbaren Stollen ausgestattet. In der Halbzeitpause wurden die Stollen für jeden deutschen Spieler durch größere Stollen ersetzt, um mehr Stabilität auf dem schlammigen und regnerischen Boden zu gewährleisten. Für viele bis heute unbemerkt waren genau diese revolutionären Adidas-Schuhe ein entscheidender Faktor für den damals fast
des krassen Außenseiters über Ungarn, und damit wohl wesentlich mitverantwortlich für den ersten WM-Sieg der jungen Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit.
Nach mehr als sieben Monaten Zeugenbefragung im gigantischen bayerisch-deutschen Wirecard-Skandal mögen sich viele an diese Halbzeitüberraschung aus der Schweiz von 1954 erinnert gefühlt haben. Das Wunder von Bern mag sich eventuell auch auf die eine oder andere Reflexion der ersten Hälfte des Spiels im brandneuen Münchner Gefängnis-Gerichtssaal Stadelheim ausgewirkt haben.
Vielleicht eines der ersten Ereignisse, an das man sich in diesem Sinne erinnern mag, war
eine stürmische Attacke der Münchner Staatsanwaltschaft gleich am ersten Verhandlungstag. Insgesamt ganze fünf Stunden lang verlasen sie die Anklage gegen drei ehemalige Wirecard-Vorstände, denen unter Anderem Betrug vorgeworfen wird. Erinnernswert ist auch der Gegenangriff der Verteidigung von Dr. Braun, die sofort die Aussetzung des gesamten Prozesses beantragte. Nicht, weil sich die Verteidigung zu sehr unter Druck gesetzt fühlte, wie einige kompromittierte Reporter auf der Zuschauertribüne ihrem Massenpublikum wohl eher
fälschlicherweise vorgaukelten, sondern weil dieselben Staatsanwälte aus München, die wenige Tage zuvor mehr als fünf Stunden lang ihre Anklageschrift verlesen hatten, erst einige Tage vor Prozessbeginn Dr. Braun massenhaft E-Mails und Transaktionsunterlagen zur Verfügung gestellt hatten. Für diese Art von Foulspiel hätten die Münchner Staatsanwälte eigentlich gleich von Anfang an mindestens eine gelbe Karte verdient.
Kurz darauf entschied das Münchener Landgericht-Team in einer Art Torwartspektakel von außergewöhnlichster Dimension, den Antrag auf Aussetzung des Verfahrens abzulehnen. Diese Ablehnungsentscheidung des Gerichts wurde von Dr. Brauns Verteidigerteam Mitte Januar 2023 umgehend angefochten, verbunden mit einem zweiten Antrag auf Aussetzung der laufenden Haft des ehemaligen Wirecard-CEOs.
Zuvor, so im März 2023, hatte das Verteidigungsteam von Dr. Braun einen weiteren beeindruckenden Punkt erzielt, indem es nicht nur in den Transaktions-Aufzeichnungen entdeckte, dass viele Hunderte von Millionen an Provisionszahlungen auf Bankkonten im Ausland identifiziert wurden, die eindeutig mit Drittpartner-Geschäftsaktivitäten in Verbindung stehen.
Anstatt jedoch eine zeitnahe Entscheidung zu treffen, beschloss das Gericht, diesen Berufungsantrag sozusagen in der Umkleidekabine zu verstecken, um ihn am letzten Tag vor der Sommerpause im August 2023 wieder in die Arena zu holen und rückwirkend zu Mitte Januar 2023 nun erst komplett zu verwerfen - dies gleich zusammen mit dem damaligen Antrag, die Haft von Dr. Braun auszusetzen.
Spätestens seit Anfang Februar 2023 befanden sich die bayerischen Offensivabteilungen im ständigen Angriffsmodus, ähnlich wie ein wütender FC Bayern München, der verzweifelt versucht, jedes Jahr so um den Frühlingsanfang gegen einen echten Champions-League-Sieger aus dem Ausland endlich einmal ins Viertelfinale einzuziehen. Tore ? Fast keine. Die vielen staatsanwaltschaftlich und massenmedial gestützten Vorwürfe gegen Dr. Braun verfehlten das Ziel um gute 20 Meter links, rechts oder endeten sogar ganz weit oben in den Tribünenrängen.
Das Gericht befragte eine Reihe von Finanz- und Compliance-Manager und Geschäftsführer, die das Bild von einer eher schlampigen Finanz- und Rechtsaufsicht bei Wirecard vermittelten. Das Problem ist, dass dies weniger in der Verantwortung und Schuld des CEO lag, und noch nicht einmal unbedingt in der nur des CFOs oder des Finanzdirektors.
Mit der Befragung
eines ehemaligen IT-Leiters rückten die IT-Strukturen, die Cloud-Netzwerke und die ausgelagerten Software-Engines von Wirecard in den Fokus, die eigentlich viel mehr im Blickpunkt der zuvor massiv-interessierten Presselandschaft Deutschlands hätten stehen müssen. Doch seit Prozessbeginn blieben die Pressestühle im hinteren Teil des Gerichtssaals und noch mehr ein IT-affiner Fokus weitgehend aus und leer - ähnlich wie der Stuhl von Jan Marsalek. Der hatte immerhin
einen persönlichen Brief, der Ende Juli 2023 an einen Münchner Anwalt und von dort an das Landgericht weitergeleitet wurde, auf seinem unsichtbaren Platz hinterlassen.
Die Mittelfeldposition von Wirecard, die James Freis innehatte, war besonders interessant. Er wurde nach dem 18. Juni 2020 zum Interims-CEO des Unternehmens ernannt, nachdem Wirecard bekannt gab, dass 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten in Asien fehlten. Man hätte erwartet, dass James Freis
bei der Befragung am 27. April 2023 beeindruckende Züge macht und den Ball nach vorne treibt, aber stattdessen wurde ihm dieser von Dr. Braun abgenommen und direkt ins gegnerische Tor geschossen. In einem seiner Sätze fragte Dr. Braun nämlich, ob James Freis eigentlich mitbekommen habe, dass in den Wochen und Monaten vor der Insolvenz des Unternehmens mindestens 156 Millionen Dollar von Wirecard-Konten an Offshore-Banken überwiesen worden sind.
James Freis enthüllte in seiner Aussage in durchaus atemberaubender Weise auch, dass der örtliche Insolvenzverwalter ihm regelmäßig auf die Füße getreten ist, nachdem die Wirecard-Insolvenz Ende Juni 2020 eilig erklärt worden war. Er teilte Freis damals mehrfach mit, dass es nicht sonderlich erwünscht und auch nicht empfehlenswert sei, potenziell hunderte von Millionenbeträgen eventuell im Zusammenhang mit dem angeblich nicht-existenten TPA-Geschäft, irgendwo ausfindig zu machen. Zuvor, so im März 2023, hatte das Verteidigungsteam von Dr. Braun einen weiteren beeindruckenden Punkt erzielt, indem es nicht nur
in den Transaktionsaufzeichnungen entdeckte, dass viele Hunderte von Millionen an Provisionszahlungen auf Bankkonten im Ausland identifiziert wurden, die eindeutig mit Drittpartner-Geschäftsaktivitäten in Verbindung stehen würden. Einnahmen aus einer Geschäftstätigkeit, die es nach Ansicht der Staatsanwaltschaft München gar nicht geben darf und deren Nichtexistenz vor einigen Jahren zu Dr. Brauns weiter andauernden Inhaftierung geführt hatte.
Das Verteidigungsteam stürmte sogar noch weiter vor, indem es einige Unternehmen nannte, die an weltweiten Geldströmen von über 900 Millionen Euro aus diesen Drittpartner-Geschäften beteiligt sind, wobei insbesondere die schöne Schweiz stark involviert ist. Genau wie bei der fast 1 Milliarde Euro schweren Softbank-Investition in Wirecard aus dem Jahr 2019.
Das Wunder von Bern vom 4. Juli 1954
Ein ehemaliger Softbank-Mitarbeiter gab im August 2023
als Zeuge im Gerichtssaal an, dass die Credit Suisse mit der Abwicklung des Deals damals beauftragt wurde. Die knapp 1 Milliarde Euro wurden als Schulden in Unternehmensanteilen finanziert, wobei satte 100 Millionen Euro an Gewinn dort in der schönen Schweiz gemacht wurden, als man so ganz nebenbei die fast eine Milliarde an Investoren weiterreichte.
Jedes wirklich erfolgreiche Team hat auch den einen oder anderen Joker-Spieler, also solche, die überraschend zum Ende des Spektakels eingewechselt werden um das Spiel zu kippen. Der ehemalige, wegen der Wirecard-Angelegenheit Anfang 2021 gefeuerte BaFin Direktor Felix Hufeld hatte kurzfristig beim Sylter Industrie-Investmentunternehmen Ranthun Capital angeheuert. Wenig später rief man Hufeld zum New Yorker Investmentunternehmen Apollo Management Inc., wo man ganz ungeniert etwas nach Hufelds Anstellung dann im Februar 2023 wesentliche Assets genau jener oben genannten, faulen Credit Suisse Bank aufkaufte für einen nicht benannten Kaufpreis. Bezeichnend ist, dass weitere, ehemals im Wirecard Skandal verwickelte Joker-Spieler nach dem gigantischen Spiel mit der schönen Schweiz verstrickt sind oder waren, darunter BaFins Elisabeth Roegele und auch James Freis. Das Anwaltsteam von Dr. Braun hatte bereits vor Monaten mehrere Anträge eingereicht, in denen auch der offizielle Wirecard-Insolvenzverwalter indirekt über das Gericht aufgefordert wird, die im Ausland gefundenen, dreistelligen Millionenbeträge zu beschlagnahmen. Da dieser sich nach wie vor weigert dies zu tun und zu diesem Thema fast gänzlich schweigt, hätte man diesen Insolvenzverwalter eigentlich schon längst die rote Karte zeigen und zum Verlassen des Platzes auffordern müssen. Die offizielle und jahrelang kultivierte Narrative eines nicht-existenten Wirecard-Drittpartnergeschäftes muss wohl unter allen Umständen und mit bayerischer Brechstange aufrecht erhalten bleiben.
Die Verteidigung der Gegner geriet noch deutlicher ins Wanken, als die offiziellen Wirecard-Ermittler der Münchner Kriminalpolizei befragt wurden. Diese Chefinspektoren verrieten nämlich, dass sie sich erst ab Ende 2021 oder so - als das Berliner Pokalfinale im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages mit großem Tamtam beendet wurde - mit den Finanztransaktionsdaten der vielen beteiligten Wirecard-Unternehmen anfingen, sich zu befassen. Wahrscheinlich hätten diese Ermittler aus München überhaupt gar nicht erst auf den Platz auflaufen dürfen, oder ?
Spätestens Ende Juli 2023 hätte es ebenso eine rote Karte für Münchens und Süddeutschlands allererster Anlaufstelle für massenmediale Berichterstattungen - die Süddeutsche Zeitung - geben müssen. Dies für deren Berichte,
in denen behauptet wird, dass die oben erwähnten Anträge der Verteidigung von Dr. Braun nicht das Ergebnis von zahlreichen skandalösen Enthüllungen sind, die durch aufwendige Ermittlungen und Zeugenaussagen erlangt wurden, sondern laut Ansicht der SZ ein
"Mittel der Verteidigung von Dr. Braun, um vom skandalösen Betrug abzulenken".
Was wird die zweite Hälfte des Spiels noch alles offenbaren, jetzt, da die Schuhstollen des Außenseiters durch wesentlich größere ersetzt wurden?
Eine Übersicht über die rechtlichen Anträge finden Sie hier.